Eine Decke aus Luft

„Ooaarrr, was Du Dir wieder alles eingefangen hast“, sagt Spitzohr zu Braunguck und klaubt mit flinken Fingern leuchtend bunte Blätter aus dem Haarkleid ihres Freundes. In dessen lockigen Zotteln glänzt es gelb, rot, orange und rostbraun. Die Blätter lugen wie kleine Flügel aus der Wolle des Kobolds und zaubern auf seinem Haupt ein Krönchen aus Laub. Sein Spiegelbild ist in den Augen der winzigen Freundin gut erkennbar. Es leuchtet. Ein so schönes Bild! Er lächelt selig, während Spitzohr für Ordnung im Fellkleid des Waldkoboldes sorgt. Beim Herumschwirren schillern ihre beiden Flügelpaare gleich zarten Eisplättchen. Ein Vorbote der kommenden Jahreszeit.

Das Elfchen und der Wuschelbold machen es sich in einer Rotbuche bequem. Die Astgabel, in der sie die Nacht verbringen, balanciert ein verlassenes Vogelnest. Der ideale Schlafplatz - gepolstert mit Daunenfedern, Garn und Moos. Die Waldelfe sichtet den kunstvollen Bau aus Zweigen und allerhand anderem Material. Dann sucht sie sich neben Braunguck, der sich bereits zusammengekugelt hat, einen Platz. Die beiden Gefährten legen sich in das letzte Strahlen der warmen Herbstsonne. Verträumt betrachten sie die feinen Spinnennetze überall. Der Tag neigt sich dem Abend zu und überlässt ihm den Wald. Nichts lieben die zwei Naturgeister so sehr, wie den Altweibersommer. Am meisten die kleinen Spinnen, die an dünnen Fäden fröhlich durch die Luft fliegen.

Und warum? „Weil sie beim Landen auf der Haut kitzeln!“ würden Spitzohr und Braunguck wie aus einem Mund sagen. Schon der Gedanke an die winzigen Spinnenfingerchen, die ihm den Bauch kraulen, lässt das kernige Koboldchen freudig glucksen. Ein Glucksen, das bald in ein Brummel-Grummeln übergeht. Aneinander geschmiegt schlafen beide - eingehüllt in die aufkommende Dunkelheit – ein.

Ein Surren weckt die Schlafenden. Spitzohr und Braunguck reiben sich die Gesichter. Unweit ihres Schlafbaumes steht ein Hüttchen. Aus dessen Schornstein eine Rauchfahne kerzengerade zum Mond zeigt. Neben der Tür aus knarzigem Holz reiht sich Körbchen an Körbchen. Alle gefüllt. Alle voller Kastanien, gesammelter Blätter und quittegelber Quitten. Alles in Szene gesetzt vom Kerzenlicht aus den Fenstern und einem großen Rundfeuer vor dem Märchenbuch-Haus. Dort sitzt die Alte an ihrem Spinnrad. Ungebremst saust ihr rechter Fuß auf das Trittbrett. Das Schwungrad rotiert. Geknechtet saust die Antriebsstange auf und ab. Zwischen den fleckigen Händen zwirbelt sich ein Fädchen zusammen, das sofort aufgespult wird. Erst leise, dann lauter singt die Grau-Frau: „Uralt Spinnrad - traumverloren am Kamin. Sitz ich abends, wenn alle Wolken ziehen. Dämmern und Träumen sind das Verlangen. Eine Zukunft, die längst vergangen. Es surrt das Rädchen leise, auf fast vergessene Weise. Bis die alte Zeit erwacht und erinnert an Kindertage, der ersten Liebe Glück.

Doch das Rädchen bringt keine Stunden mehr, es dreht sich nicht zurück. In Großmütterleins Stübchen saß ich einst jung und dumm. Jetzt weiß ich vom Kreislauf und schweige darum.“

Immer wieder zupft die Greisin mit den spindeldürren Fingerspitzen etwas aus der Luft. Und doch ist im Flackern der Flammen nichts zu erkennen. „Was um alles in der Welt macht sie da?“, fragt Braunguck. „Sie spinnt aus dem fliegenden Sommer ein Fädchen, das sie zu einem Garn verzwirnt.“ „Das ist alles?“, will der Kobold wissen. „Nein, nein. Das ist erst der Anfang“, entgegnet das Waldelfchen: „Später webt sie einen Stoff. Hinein packt sie Nebelschwaden und die Lebensfaden, derer, die ihr Tuch auflösen.“ Braunguck rutscht hin und her: „Wofür soll das denn gut sein?“ „Jedes Jahr aufs Neue wird eine Decke aus Luft gefertigt und mit Altweiberfäden eingesäumt. Es ist der Umhang, den die alte Weise der Natur als Schutzmantel vor dem Winter anlegt.“

„Du sagst nichts mehr?“, flüstert ganz leise das Spitzöhrchen. Der Waldkobold streckt den Arm aus, lässt die Waldelfe auf seiner Handfläche landen: „Dieser Moment hat seine ganz eigene Magie. Der Zauber darf nicht durch meine Worte gebannt sein. Sieh hin und fühle.“

 

Text: M&M|Maikirschen & Marketing